Im Nachgang zur MEET-Tagung "Born in the Friedensbewegung" im November 2009 hat sich auch allgemein etwas bewegt. Die Kinder der Friedensbewegung verstehen sich als "Dritte Generation Ost". Dazu ist im August 2012 ein Buch erschienen, das hier nun besprochen wird.
Viel Freude bei der Lektüre.
http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2013-2-122
Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:
Rainette Lange, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam
E-Mail: <lange@zzf-pdm.de>
Die "3te Generation Ost" ist eine 2011 in Berlin gegründete Initiative
junger Ostdeutscher. Sie verfolgt das Ziel, das Reden und Schreiben über
Ostdeutschland und DDR-Vergangenheit in neue Bahnen zu lenken und es
dabei explizit um die Perspektive derjenigen zu bereichern, die
lediglich ihre Kindheit in der DDR verbrachten. Diese "Generation" der
zwischen 1975 und 1985 in der DDR Geborenen zeigt nun verstärkt ein
Bedürfnis, eigene Erfahrungen und Sichtweisen auf den
Transformationsprozess zu artikulieren und für den gesamtdeutschen
Diskurs fruchtbar zu machen. Der Impuls zur Gründung der "3ten
Generation" entsprang, wie die Initiatoren und Herausgeber des Buches im
Vorwort betonen, einer latenten Unzufriedenheit über den öffentlichen
Umgang mit der DDR-Vergangenheit und dem medial vermittelten Bild
Ostdeutschlands. Insbesondere Letzteres erschien vom eigenen Erleben und
den ostdeutschen Realitäten zu weit entfernt, um echtes Verständnis und
eine gesellschaftliche Weiterentwicklung zu ermöglichen. Um hier Abhilfe
zu schaffen, sollen, so die Hoffnung von "3te Generation Ost", zukünftig
ostdeutsche Binnenperspektiven aktiver zur Sprache gebracht werden. So
könne unter neuen Vorzeichen ein ost-west-deutscher Dialog angekurbelt
werden, der sich derzeit auf eingefahrenen Gleisen bewege.
Das Buchprojekt mit dem programmatischen Titel "Dritte Generation Ost.
Wer wir sind, was wir wollen" setzt dazu einen Auftakt. Entstanden ist
ein sehr heterogener Sammelband, in dem mehr als dreißig Autorinnen und
Autoren in kurzen persönlichen Essays, Interviews oder wissenschaftlich
fundierten Texten zu Wort kommen. Das Buch ist in vier Kapitel
gegliedert. Die ersten beiden Teile konzentrieren sich vorwiegend auf
Erfahrungsberichte und Erinnerungen an Kindheit und Wendezeit.
Demgegenüber sind die letzten beiden Teile eher darauf angelegt, die
Potentiale der Generation zu erkunden und ihr bisheriges Engagement
sichtbar zu machen. Erklärtes Ziel der Herausgeber ist es, möglichst
vielen Stimmen Raum zu geben. Auf diese Weise wollen sie ein
facettenreiches Bild einer Generation zeichnen, die von sich behauptet,
aufgrund ihrer Sozialisation in zwei verschiedenen politischen Systemen
und den damit verbundenen spezifischen Erfahrungen eine besondere Rolle
im deutsch-deutschen Integrationsprozess zu spielen. Naturgemäß ist
schwer zu sagen, inwieweit dieses Generationenkonstrukt der Initiatoren
und Herausgeber tatsächlich in breiteren gesellschaftlichen Kreisen auf
Resonanz stößt. In jedem Fall ist hier zumindest ein energisches
identitätspolitisches Anliegen spürbar.
Doch worin besteht nun die behauptete historische Besonderheit und
einzigartige Erfahrung dieser Generation? Die Vielfalt der hierzu in dem
vorliegenden Band geäußerten Meinungen und Erinnerungen hinterlässt den
Eindruck, dass sich dies kaum auf eine griffige Formel bringen lässt und
oft im Unbestimmten bleibt. Dies verhehlen die Autoren auch keinesfalls,
handelt es sich bei ihren Beiträgen doch um erste Sondierungen eines
Phänomens, das Henrik Schober in seinem Artikel zur Entstehung der
Initiative als "Die gefühlte Generation" umschreibt. Genau dies wird in
vielen Texten spürbar: die Suche nach der eigentlichen Basis eines
diffusen Gemeinschafts- oder Herkunftsgefühls sowie ein Bedürfnis, ihm
Ausdruck zu verleihen und sich öffentlich zu Wort zu melden. Es stellt
sich daher die Frage, wieso dieses Bedürfnis gerade jetzt und mit
einiger Vehemenz (man bedenke die weiteren Aktivitäten der Initiative
wie z.B. Diskussionsveranstaltungen oder Biographie-Workshops) zutage
tritt. Der Sammelband versucht, darauf erste Antworten zu bieten.
Es ist offenkundig, dass ein Großteil der Texte um eine
Identitätsproblematik kreist. Diese hängt damit zusammen, dass sich
Angehörige dieser Generation mit der eigenen DDR-Erfahrung oder vielmehr
den darauf folgenden biographischen Einschnitten der
Transformationsphase bisher kaum bewusst auseinandergesetzt haben.
Vielmehr haben sie in diesen Jahren umfassende, aber zumeist als
natürlich und relativ unproblematisch empfundene Anpassungsleistungen
vollbracht. Sie gelten daher als gut integriert und im geeinten
Deutschland "angekommen". Dieses hohe Maß an zwar vielfach
erfolgreicher, aber dennoch merkwürdig blind erfolgter Anpassung an die
neuen Umstände mag dazu geführt haben, dass jene Teile ihrer
Biographien, die vor der Zäsur von 1989 liegen, wie in der Versenkung
verschwunden erscheinen und nun nachträglich einige unbehagliche Fragen
aufwerfen. Johannes Staemmler formuliert dies folgendermaßen: "Uns
verbindet am meisten, dass wir keine Ahnung haben, was die eine Hälfte
unserer Herkunft, nämlich die DDR, mit uns zu tun hat." (S. 213)
Diese Unsicherheit ist in vielen Texten zu spüren und zeigt ein
gespaltenes Verhältnis zur eigenen Herkunft. So ist vielfach von
Gefühlen der Orientierungslosigkeit, der Scham, des Nicht-Dazugehörens
als mehr oder minder ausgeprägte Erfahrungen der neunziger Jahre die
Rede. Selbst die vielen genutzten Chancen und ungeahnten Möglichkeiten
beförderten aus Sicht der Initiatoren und Autoren letztlich die
Entfremdung und Entfernung von der eigenen DDR-Herkunft und ließen diese
Herkunft mitunter als schwer integrierbaren Teil der eigenen Biographie
erscheinen. So stellt beispielsweise Anne Wessendorf in einem Gespräch
mit ihrer Schwester über ihre jeweiligen Wende-Erfahrungen fest: "Es
ist, als ob es ein Ost-Ich und ein West-Ich in mir gibt, die sich
zeitlich nacheinander gebildet und auch nicht automatisch miteinander
verzahnt haben." (S. 84) An anderer Stelle konstatiert sie: "In
vielerlei Hinsicht ist die Wiedervereinigung ein hochemotionales Thema
für mich, an das eine tiefe Verunsicherung gekoppelt ist. Bislang habe
ich wohl eher versucht, dies mit mir selbst auszumachen. Ich wollte es
in gewisser Weise aussitzen, die Büchse der Pandora lieber nicht
öffnen." (S. 91)
Die mangelnde Unbefangenheit im Umgang mit der eigenen Geschichte und
Herkunft wird mehr als deutlich. Die Autoren führen dies auf eine noch
immer defizitäre öffentliche Auseinandersetzung mit DDR-Geschichte
zurück sowie auf eine von "Unlust und Vorurteilen" (S. 10) geprägte
ost-westdeutsche Gesprächskultur. Auch ein Schweigen zwischen den
Generationen machen sie als Faktor aus.
Die Publikation der Initiative ist daher als Gesprächsangebot lesbar,
das gegenwärtige Meinungen und Deutungen junger Ostdeutscher (und auch
einiger Westdeutscher) bündelt. Die Autoren schlagen dabei teilweise
einen kühnen Ton an, so z.B. Adriana Lettrari in ihrem Beitrag über die
"Potentiale der Dritten Generation Ostdeutschland", welche sie nicht
ohne Pathos zu benennen versucht. Doch selbst darin offenbart sich noch
die mangelnde Unbefangenheit, denn es klingt fast wie der Versuch, eine
Not zur Tugend zu machen, wenn sie sagt: "Für uns stellt sich die Frage,
was unser Erbe, unsere Herkunft heute ausmacht und wie wir ihnen
Konstruktives abgewinnen können." (S. 204) – Was den Gedanken
impliziert, dass "unser Erbe, unsere Herkunft" mit einem Makel behaftet
ist, der beseitigt werden muss, und damit an ostdeutsche
Rechtfertigungsdiskurse anschließt. Im Folgenden ist daher viel die Rede
von speziellen "Transformationskompetenzen" oder auch davon, dass es das
Erbe der Erfahrungen aus dieser "historisch so speziellen Sozialisation"
als Handlungsgrundlage zu nutzen gelte. Worin dieses Erbe genau besteht,
bleibt vage, im Vordergrund steht eine forcierte Suchbewegung nach etwas
"spezifisch Eigenem", die allerdings in einer gar nicht so "eigenen" und
etwas formelhaft wirkenden Leistungs- und Motivationsrhetorik
vorgetragen wird.
Doch den Befund sollte man ernst nehmen: In Beiträgen wie diesen
offenbart sich ein identitätspolitischer Anspruch und ein scheinbar noch
immer vorhandener Reflex gegen Fremdbestimmung, dessen Intensität
Vertreter älterer Generationen offenbar überrascht. Doch wenn z.B. die
Herausgeber im Vorwort behaupten, dass auch die
"Selbstverständlichkeiten der alten BRD" untergegangen seien und wenn
sie die Westdeutschen auffordern, dies anzuerkennen, ist das nicht als
politischer Werterelativismus oder gar "exorzistischer Appell" zu
verstehen, wie Michael Kuhlmann in seiner Buchbesprechung im SWR2
befürchtet.[1] Auch besteht der Wert des Buches nicht in erster Linie
darin, dass es die "westdeutsche Bevölkerungsmehrheit" über "Eigenheiten
östlicher Befindlichkeit" zu informieren vermag. Vielmehr macht die
Publikation deutlich, dass ein Bedürfnis nach echtem beiderseitigen
Austausch besteht. Sie ließe sich daher auch als Aufforderung verstehen,
mehr über westliche "Befindlichkeiten" zu erfahren. Wie diese aussehen
konnten, schilderte etwa der (West)Berliner Schauspieler Lars Eidinger
(Jg. 1976) unlängst in einem Interview mit der Berliner Zeitung. Er fand
es furchtbar, so Eidinger, in den frühen 1990er-Jahren mit seinen Eltern
Ausflüge ins Berliner Umland machen zu müssen: "Ich habe mich zu Tode
geschämt, in einem 5er BMW im Schritttempo durch diese Käffer zu fahren.
Die Leute standen in den Vorgärten und haben geguckt. Mein Bruder und
ich sind hinten immer tiefer in den Sitz gerutscht."[2]
Verunsicherung und Irritation angesichts der völligen Neuorientierung
eines ganzen Landes sind sicher keine rein ostdeutschen Erfahrungen.
Daher ist es auch für jüngere Jahrgänge wichtig, sich über ihre
Erfahrungen auszutauschen, um nicht doch wieder Ressentiments zu
verschleppen. Das Buch, wenn auch in seiner Konzeption und Zielsetzung
noch nicht ganz ausgegoren, bietet hierfür aufschlussreiche Lektüre.
Anmerkungen:
[1] SWR2 Forum Buch: Dritte Generation Ostdeutschland, Rezension von
Michael Kuhlmann, 27.01.2013,
<http://www.swr.de/swr2/programm/sendungen/buchkritik/-/id=658730/sdpgid=752730/nid=658730/did=10740214/1y6v9r/index.html>
(02.05.2013)
[2] "Leinen mit Schäferhunden dran", Der Kudamm, Strandbad Wannsee, der
Funkturm – warum sich der Schauspieler Lars Eidinger im Berliner Westen
zu Hause fühlt, in: Berliner Zeitung, 25.03.2013, S. 16.