Langenscheidts Taschenwörterbuch übersetzt „retreat“ mit „Rückzug“ oder „Zufluchtsort“. Beide Begriffe eignen sich hervorragend, um etwas von unserem Wochenende Ende Juni in der Nähe von Uelzen zu erzählen. Das Anliegen von MEET, die Sehnsucht nach gelebter, ökumenischer Spiritualität einerseits und nach Veränderung der Gesellschaft andererseits zu verbinden, ist in der Woltersburger Mühle auf beeindruckende Weise verwirklicht und wurde für uns als Teilnehmer der Sabbattage auch deutlich sicht- und spürbar. Nach unserer Ankunft am Freitagabend zeigten uns Gerard Minaard und Klara Butting (beide Woltersburger Mühle und Verein Erv-rav) das Gelände und ließen dabei die Vision von ihrem Projekt lebendig werden. In dem Ensemble von Baumaterial und ersten Pflanzungen, halbfertigen Gebäuden und bildhauerischen Arbeiten konnte ich so vor meinem inneren Auge bereits erkennen, was dieser Ort einmal sein wird: eine Qualifizierungsstelle für benachteiligte junge Arbeitslose einerseits, zugleich ein Zentrum für biblische Spiritualität mit Tagungsbetrieb, ein Ort für Umwelterfahrung und –bildung und der Kunst. Ein Ort der Zuflucht und des Rückzugs. Oder mit den Worten von Klara: ein Anschauungsbeispiel für Befreiungstheologie im europäischen Kontext. Wer mehr darüber wissen möchte, dem sei die anschauenswerte Homepage des Projekts empfohlen: www.woltersburgermuehle.de.
Am Samstag (v)erlebten wir dann angeleitet von Klara einen Sabbattag. Unsere Gruppe von fünf MEETlern erweiterte sich für diesen Tag um zwei weitere Personen, eine Pastorin aus Nordelbien und einen Herrn aus der Uelzener Baptistengemeinde, der von unserem Retreat in der Zeitung gelesen hatte. Im Gespräch über alttestamentliche Texte zum Sabbat (Gen 2,2-3; Ex 20,8-11; Dtn 5,12-15) sowie die in Mk 9,2-8 als Sabbaterfahrung vorgestellte Verklärungsszene erschlossen wir uns die Bedeutung des Sabbats: eines von Gott schon geheiligten, d.h. von den übrigen Tagen abgesonderten Tages, der von uns doch auch entsprechend geheiligt werden muss, damit er sein kann, wozu er gegeben ist. Erst durch die Ruhe des siebten Tages vollendet sich das Werk der Woche und wird der Blick frei für die Ausrichtung auf das Gottesverhältnis. Dabei geht es nicht allein um ein individuelles Geschehen, sondern ein gemeinschaftliches: am Sabbat sind alle gleichgestellt, sind soziale Unterschiede aufgehoben.
Nach dieser eher kognitiven Auseinandersetzung gingen wir dann in die Stille. Zuerst gemeinschaftlich, dann jeder für sich mit einem Satz aus den besprochenen Texten als Begleiter. Der Raum der Stille befindet sich auf dem Dachboden eines noch mitten im Bau befindlichen alten Gebäudes. Durch den besonderen Charme von Meditationsbänken zwischen nackten Balken war die Verbindung von „Kampf und Kontemplation“1 jederzeit spürbar. Die wunderschöne Umgebung bot dann jedem die Möglichkeit, sich mit dem ausgewählten Textabschnitt zurückziehen. Im Raum der Stille fanden wir anschließend in die Gemeinschaft zurück, bevor wir uns über unsere Erlebnisse und vertieften Einsichten zu unserem Satz austauschten. Mit einem Lied endete der von Klara geleitete Teil des Sabbats.
Danach blieb noch jede Menge Zeit und Sonnenschein für Schwimmen im in Fußnähe gelegenen See und Zusammensein mit Picknick, Gottesdienstvorbereitung und Gedankenaustausch über MEET. Dabei ging es vor allem um die Fragen, was MEET sein will, ob an diesem Ort ein gemeinsames Seminar mit der Sassnitzer Initiative zum Thema „Arbeit“ vorstellbar ist und ob die Woltersburger Mühle ein Ort sein könnte, an dem MEET dauerhaft seine Jahrestagung abhält. Gerard Minaard schlug uns vor, darüber nachzudenken, was genau das Interesse von MEET an diesem Ort gelebter Befreiungstheologie in Deutschland sein könnte. Diese Diskussion kann ja und sollte sicherlich im September in Imshausen fortgesetzt werden.
Am Sonntagmorgen fand das Wochenende seinen stimmigen Abschluss in einem Gottesdienst in der Stadtkirche Uelzen. Predigt2 und Fürbitten hatte der dortige Pastor Klingbeil uns überlassen, was es uns ermöglichte, die Erlebnisse dieses Wochenendes mit der Gemeinde zu teilen und so ein Stück weit in die Welt (oder zumindest die Stadt) zu tragen. Beim anschließenden Kirchkaffee war Gelegenheit, mit den Gottesdienstbesuchern ins Gespräch zu kommen. Mich persönlich hat besonders gefreut, dass auch der Teilnehmer des Sabbattags mit seiner Frau gekommen war und das Gespräch dadurch eine sehr aufgeschlossen ökumenische Dimension bekam.
Wenn es gelingt, uns an Orten wie diesen in unserem Glauben wie in unserem Schaffen gemeinschaftlich zu (be)stärken, dann ist aus meiner Sicht die Frage nach dem Charakter von MEET zu einem großen Teil bereits beantwortet.
Sarah Gartelmann
1 Frère Roger, zitiert aus der Einladung zum Wochenende.
2 Die von Katrin und Christina vorbereitete Predigt findet ihr im Anhang.